Antisemitismus

Von der Deklaration des „Burgfriedens“ zur „Judenzählung“

Bei Kriegsbeginn wurde mit der Deklaration des „Burgfriedens“ die nationale Leistung der ethnischen und politischen Zugehörigkeit vorangestellt. Jüdische Männer durften nun hohe Stellen in der Verwaltung sowie im Militär besetzen. So leitete beispielsweise der jüdischstämmige Walter Rathenau 1914/15 den Aufbau der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium. Der Kriegseintritt Deutschlands wurde von der jüdischen Bevölkerung als Möglichkeit gesehen, sich im nationalen Sinne als gute Staatsbürger für das Deutsche Reich einzusetzen. Zwischen 1914 und 1918 kämpften mehr als 100.000 jüdische Soldaten in der deutschen Armee, darunter u.a. der jüdischstämmige SPD-Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank. » Deutsche Juden rechtfertigten ihren Kriegseinsatz aber auch mit den schlechten Lebensbedingungen von osteuropäischen Juden in Russland; ihre Beteiligung am Krieg war für sie zugleich Verteidigung und Befreiung der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa.

Die große Bereitschaft der jüdischen Bevölkerung, für das Deutsche Kaiserreich ihr Leben zu riskieren, ließ überzeugte Antisemiten in der deutschen Öffentlichkeit zunächst verstummen. Doch mit der immer allgegenwärtiger werdenden Krisensituation in ökonomischer, militärischer und politischer Hinsicht erfuhr die jüdische Bevölkerung verstärkt Hassbekundungen und Hetzkampagnen aus Teilen der deutschen Gesamtbevölkerung. Diese machten Juden für ihre Notlage verantwortlich. Auch jüdische Soldaten an der Front wurden vermehrt mit dem unbegründeten Vorwurf der unsoldatischen Veranlagung konfrontiert. Oft wurde ihnen „Drückebergerei“ unterstellt; der Anteil der jüdischen Soldaten gemessen an der jüdischen Bevölkerung entsprach jedoch nachweislich etwa dem der nichtjüdischen Kriegsteilnehmer gemessen an der nichtjüdischen Gesamtbevölkerung. Viele der hessischen Zeitungen, ausgenommen beispielsweise die liberal ausgerichtete Frankfurter Zeitung, die sich klar gegen antisemitisches Gedankengut positionierte », nahm oft keine eindeutige Haltung gegen antisemitische Strömungen im Deutschen Kaiserreich ein. » »

Nicht nur innerhalb der deutschen Armee und in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen wie dem politischen Katholizismus, der das traditionelle jüdische Feindbild wieder aufleben ließ, wurden antisemitistische Ansichten salonfähig. Der rechte Flügel der deutschen Innenpolitik öffnete sich für antisemitische Haltungen. Höhepunkt der politischen Diskriminierung von jüdischen Deutschen während des Ersten Weltkriegs war ein am 11. Oktober 1916 erfolgter Erlass des preußischen Kriegsministeriums. Dieser ordnete eine Zählung aller Juden beim Feldheer, in der Etappe sowie beim Besatzungsheer, aber auch bei den mittlerweile ausgemusterten und zurückgestellten jüdischen Männern im wehrpflichtigen Alter an. Die amtlich angeordnete „Judenzählung“ fand in der hessischen Presse wenig Erwähnung. Eine ausgiebigere Berichterstattung in Bezug auf die amtlich angeordnete „Judenstatistik“ stellt, neben der Frankfurter Zeitung », die Rheinische Volkszeitung dar. Diese druckte in ihrer Ausgabe vom 31. Oktober 1916 eine ausführliche Darlegung eines ortsansässigen Juden zum Thema „Judenzählung“ ab. In dieser positionierte sich der jüdische Mitbürger ausdrücklich gegen den Erlass. » Unter dieser Stellungnahme gab die Rheinische Volkszeitung ihre eigene Haltung zur „Judenstatistik“ wieder; diese würden wir aus heutiger Sicht als eindeutig antisemitisch bewerten. Alle jüdischen Organisationen lehnten die „Judenzählung“ einhellig ab. » Die Durchführung des Erlasses führte u.a. zu Degradierungen und Demütigungen von jüdischen Soldaten in der deutschen Armee. » Es kam zu Ausschreitungen und Übergriffen. Antisemitisches Gedanken- und Schriftgut konnte sich nach der amtlichen Verordnung vom 11. Oktober 1916 ungehindert an Kriegs- und Heimatfront verbreiten. Auch die Tatsache, dass die Ergebnisse der „Judenzählung“ nie offiziell veröffentlicht wurden, zog wilde Mutmaßungen und eine weitere Förderung des Antisemitismus, auch über das Kriegsende hinaus, mit sich.